Agile Organisation: Rolle, Hierarchie, Entscheidung

In der klassisch-hierarchischen Organisation sind Hierarchie und Rolle eindeutig an die Person gekoppelt. Jede*r Mitarbeitende ist auf einer klaren Hierarchieebene verortet und besitzt meist eindeutig definierte, oft in Stellenbeschreibung normierte Aufgabengebiete, Entscheidungsbefugnisse, Rechte und Pflichten. Nach dem Prinzip „Ober sticht Unter“ haben hierbei Personen auf höheren Hierarchieebenen als Führungskräfte stets die Möglichkeit, Entscheidungen von unter ihnen verorteten Mitarbeitenden zu kassieren; gleichzeitig müssen sie alle Entscheidungen, die in dem ihnen anvertrauten Führungsbereichen von anderen getroffen werden, persönlich verantworten.

In einfachen und auch komplizierten Umfeldern kann dieses Modell Effizienz und Schlagkraft entfalten. Je mehr eine Organisation jedoch von VUCA betroffen ist, je mehr sie in komplexen oder gar chaotischen Situationen Handlungsfähigkeit beweisen muss, desto mehr stößt dieses klassisch-hierarchische Führungssystem an Grenzen. Das Prinzip des an die Führungskraft gebundenen Einzelentscheids kann nicht die notwendige Perspektivenvielfalt eröffnen, die notwendig ist, um im komplexen Umfeld gute Entscheidungen zu treffen. Die Starrheit der eindeutigen Verortung von Personen auf Hierarchiestufen und in eindeutig definierten Aufgabengebieten macht es schwierig, auf zu lösende Probleme schnell die richtigen Menschen mit passenden persönlichen Stärken anzusetzen. Zusätzlich kann die klassisch-hierarchische Organisation nur sehr schwer intrinsische Motivatoren (laut Daniel Pink Purpose, Autonomy und Mastery) wirksam machen – damit verliert sie Attraktivität im war on talents in den Generationen Y und Z.

Agile Organisationen stellen sich anders auf, um VUCA-Resilienz und Motivation zu generieren. Dabei machen sie unter anderem in drei Punkten einen zentralen Unterschied zur klassisch-hierarchischen Organisation: sie entkoppeln Person und Rolle, sie trennen Person von Hierarchie und sie erweitern Entscheidungsspielräume.

Role vs. Soul: Trennung von Person und Rolle

In sogenannten Matrixorganisationen wird die Eindeutigkeit von Person und Rolle bereits aufgeweicht: Mitarbeitende, die in der Linie klar verortet sind, können „nebenbei“ in Projekten andere Aufgaben mit übernehmen. In der agilen Organisation wird noch radikaler zwischen Person und Rolle differenziert: Aufgabengebiete werden – idealerweise abgeleitet von ihrem Beitrag zum Purpose der Organisation und mit einem klar beschriebenen Verantwortungsbereich (Domain) versehen – als Rollen beschrieben. Hierbei gilt das Prinzip, dass jede*r Mitarbeitende grundsätzlich mehrere Rollen übernehmen kann. Vice versa kann jede Rolle auch von mehreren Mitarbeitenden verantwortet werden. Kollektiv verantwortete Rollen werden dann nicht selten als Kreise bezeichnet.

Themenhierarchie statt Personenhierarchie

Parallel dazu werden in der agilen Organisation Hierarchieebene und Personenstatus entkoppelt. Grundsätzlich befinden sich alle Mitarbeitenden in der Organisation auf Augenhöhe auf einer einzigen Hierarchieebene. Eine Personenhierarchie gibt es nicht (mehr). Die von Mitarbeitenden übernommenen Rollen können sich jedoch auf unterschiedlichen Stufen einer Themenhierarchie befinden. Das heißt, dass ein*e Mitarbeiter*in ihr*e persönlichen Stärken je nach Rolle gleichzeitig auf oberster (z.B. als Mitglied des Strategiekreises) und unterster (z.B. als Mitglied eines Unterprojekts) entfalten kann.

Erweiterung von Entscheidungsspielräumen

Wo im hierarchischen Kontext meist nur ein Entscheidungsprinzip genutzt wird (nämlich der Einzelentscheid durch die hierarchisch überstellte Führungskraft) werden in der agilen Organisation Entscheidungsspielräume massiv erweitert. Je nach Kontext kann eine Rolle mit unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen ermächtigt werden bzw. Kreise unterschiedliche Prinzipien zur Entscheidungsfindung nutzen. Folgende Entscheidungsprinzipien haben sich hierbei in der agilen Organisation bewährt:

  • Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden (vgl. klassisch-hierarchische Organisation).
  • Konsultativer Einzelentscheid: Eine Person bzw. Rolle im Team wird ermächtigt, allein zu entscheiden, ist jedoch verpflichtet, vor der Entscheidung den Rat von einer*m oder mehreren Kolleg*innen einzuholen.
  • Mehrheitsentscheid: Die Entscheidungsoption, die die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnt, wird umgesetzt.
  • Konsens: Die Entscheidung wird solange diskutiert und modifiziert, bis sich alle mit ihr vorbehaltlos identifizieren können.
  • Konsent: Eine Entscheidung wird umgesetzt, solange keine begründeten Einwände vorliegen. Liegt ein begründeter Einwand vor, so wird dieser in die Entscheidungsfindung integriert.
  • Systemisches Konsensieren: Die Entscheidungsoption, die den geringsten Widerstand der Gesamtgruppe aufweist, wird umgesetzt – wobei im Vorfeld jede beteiligte Einzelperson (meist über Zahlenwerte) ihren individuellen Widerstand gegen jede Entscheidungsoption ausdrückt.

(Als Agile Culture Icons visualisiert stellen wir diese Entscheidungsprinzipien hier als Download zur Verfügung.)

Alle diese Entscheidungsprinzipen haben Vor- und Nachteile (z.B. hinsichtlich Entscheidungsgeschwindigkeit vs. Tragfähigkeit). Durch die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten in selbstorganisierten Teams bzw. Kreisen, kann je nach Situation das Entscheidungsprinzip mit den größten Vor- und den geringsten Nachteilen gewählt werden. Damit gewinnt eine agile Organisation enorm an Effizienz, ohne Anpassungsfähigkeit und für komplexe Fragestellung notwendige Perspektivenvielfalt einzubüßen.

 

In unserer Begleitung vieler agiler Transformationsprojekte hat sich gezeigt, dass diese Verschiebungen vor allem dann nutzbar gemacht werden können, wenn Rollen und Prinzipien bzw. Entscheidungsregeln von den Beteiligten selbst klar und für alle transparent beschrieben werden. Hierfür haben wir hilfreiche Templates und Canvases entwickelt.

Gleichzeitig kann die Agilisierung einer klassisch-hierarchischen Organisation nur dann gelingen, wenn sich Mitarbeitende intensiv mit der aktuell gelebten und der angestrebten (von uns hier beschriebenen) agilen Kultur auseinandersetzen. Der von uns entwickelte New Work Explorer hat sich dabei als sehr hilfreich erwiesen, genauso wie unser modulares System des Culture Transformation Design. In unserem Downloadbereich stellen wir für die Formulierung von Rollen (Role Canvas) und und Kreisen (Circle Tranformation Canvas) zur Verfügung.

 

Johannes Ries und Christian Fust