Wer führt, wenn die Führungskraft geht?

Ist Selbstorganisation führungslos?

>> Selbstorganisation wird oft gleichgesetzt mit der Abschaffung von Führung, im Sinne von „jetzt macht jeder was er will“. Tatsächlich geht der Aufbau von Selbstorganisation oft damit einher, dass die in einer Person manifestierte Rolle der Führungskraft (oft Führungsfunktion genannt) abgeschafft bzw. aufgelöst wird. Dies darf jedoch auf keinen Fall darin resultieren, dass mit dieser Funktion auch die Verantwortlichkeiten, die in der Führungskraft vereint wurden, verschwinden. Wenn dies der Fall ist (was nicht gerade selten auftritt), gerät das selbstorganisierte Team in Gefahr, führungs- und orientierungslos zu agieren. Wenn also im Laufe der agilen Transformation die klassische Führungsfunktion aufgelöst wird, so muss in den jeweiligen selbstorganisierten Team dennoch sichergestellt werden, dass die Führungsverantwortlichkeiten weiterhin wahrgenommen werden.

12 zentrale Führungsverantwortlichkeiten

Aus unserer Sicht bündelt das klassisch hierarchische Unternehmen folgende Führungsverantwortlichkeiten  in der Führungskraft, um das Funktionieren der Organisation zu gewährleisten:

>> Repräsentieren: Vertretung des Teams nach außen und die Stabilisierung des Netzwerks mit anderen Bereichen der Organisation

>> Schützen: Bewahrung der Eigenständigkeit und Identität des Teams über Team- und Abteilungsgrenzen hinaus

>> Orientierung geben: Konsequente Benennung von Richtung und Strategie und Formulierung (und gegebenenfalls „Übersetzung“) von Zielen

>> Leistung sichern: Kommunikation und ggf. Anpassung der Ziele, Bewertung des Erreichens oder Verfehlens von Zielen, Konsequente (positive und negative) Sanktionierung, Leistungsmessung

>> Zusammenarbeit stabilisieren: Verteilung von Aufgaben und Berücksichtigung der individuellen Stärken und Schwächen, Organisation von fachübergreifender Zusammenarbeit und Schnittstellen im Team

>> Organisation entwickeln: Veränderung und Optimierung von Interaktionsmustern, Prozessen, Strukturen und Tools (auf Team und Organisationsebene)

>> Mitarbeitende befähigen: Sicherung der notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen von Mitarbeitenden, inkl. Schaffung von Rahmenbedingungen und Bereitstellung von Ressourcen und Tools

>> Mitarbeitende entwickeln: Individuelle Entwicklung der Mitarbeitenden mit Blick auf deren Talent und Potenzial sowie Generierung von persönlichen Wachstumschancen

>> Mitarbeitende motivieren: Nutzung von Befugnissen und Ressourcen, um Mitarbeiter zu bestärken und zu stimulieren, Katalysatorfunktion für bestehende intrinsische Motivation und Ausräumung demotivierender Faktoren.

>> Kooperation sichern: Sicherstellung einer auf stabilen Werten basierenden Arbeitsatmosphäre und -kultur, die das Wohlbefinden der Mitarbeitenden gewährleistet

>> Konflikte lösen: Vermeidung der Eskalation von Spannungen und Konfliktlösung im Sinne der Betroffenen

>> Veränderung gestalten: Initiierung und Kommunikation notwendiger Veränderungen und Entwicklungen sowie die Stabilisierung dieser Veränderungsprozesse

Führungsverantwortlichkeiten in der Selbstorganisation

Das agile Projektframework SCRUM beispielsweise verteilt diese zwölf Verantwortlichkeiten auf drei Rollen: Product Owner (u.a. Orientierung geben), Scrum Master (u.a Schützen, Kooperation sichern) und Entwicklerteam (u.a. Zusammenarbeit stabilisieren) und sichert sie ergänzend über Strukturen (Meetings) und Regeln ab.

In der Transformation von der klassisch hierarchischen Organisation hin zu selbstorganisierte(re)n Organismen loten wir gemeinsam mit Teams transparent aus, wie die Erfüllung dieser zwölf Führungsverantwortlichkeiten in Zukunft gewährleistet wird und welche Personen oder Gruppen sie übernehmen. Diese Zuordnung kann – sogar innerhalb einer Organisation – je nach Team unterschiedlich ausfallen.

Die transparente Auseinandersetzung und konsequente Besetzung der Führungsverantwortlichkeiten etabliert unserer Erfahrung nach Sicherheit und Vertrauen in den Transformationsprozess. Sie gibt zudem Einblick in die Erfolgsfaktoren der bisher etablierten agilen Frameworks und zeigt die Grenzen der klassischen Führungsfunktion auf. Für die Teams ist es zudem hilfreich bewusst nachzuvollziehen, welche Befugnisse und Aufgaben sie neu vergeben müssen, um die eigene Teamfunktionalität zu sichern. Als Nebeneffekt steigt in vielen Fällen auch die Wertschätzung für die jeweilige Führungskraft. ‚Es kommt nicht selten vor, dass sich Teams dafür entscheiden, „freiwillig“ einige Verantwortlichkeiten bei der Führungskraft zu belassen – was im Sinne der bewusst gewählten Rollenverteilung nach unserem Verständnis absolut zulässig ist und nicht im Widerspruch zur Selbstorganisation steht.

Die 12 Führungsfunktionen haben wir auch als Agile Culture Icons abgebildet und zu ihnen ein Canvas erstellt. Beides steht hier als Download zur Verfügung.

 

Christian Fust und Johannes Ries